January 25, 2024
Eine Feldstudie basierend auf verschwommenen Erinnerungen.

Damals am Sziget als wir jeden Morgen unsere Besinnung in Frage stellten und uns Nachmittags wieder herrlich übers Leben freuten.

Morgens weckt mich das Synapsenorchester in meiner Stirn. Der Schädelbrummt, der Rachen kratzt. Ich fühle mich wie bei meiner letzten GrippenErkrankung. Für einen kurzen Fiebercheck fasse ich mir an die Stirn. Womöglichbin ich auch schlichtweg nur Opfer der unverzeihenden, heissen Stadtluft. Ichexe ein Glas Wasser und mein übersäuerter Magen ist direkt überfordert.Innerlich überkommt mich Dankbarkeit, das Airbnb dem Zeltplatz vorgezogen zuhaben. Dass ich mir für diesen Entscheid ordentlich Kritik von den waschechtenFestivalgängerInnen einholen musste, ist mir an dieser Stelle herzlich egal.Grüsse gehen raus. Ich setze mich langsam auf die Bettkante. Pause. Mit demKopf in die Hände gestützt debattiere ich gegen mein inneres Ich um eineweitere Runde Schlaf. Mein pochender Herzschlag liefert das ausschlaggebendeArgument dagegen. Ich manövriere die Hülle meiner Selbst also einigermassenunfallfrei ins Badezimmer, in der Hoffnung, ein Stück meiner Seele unter derDusche wiederzufinden. Und während ich den Staub aus meiner Lunge huste und dasWasser den restlichen Rausch abspült, frage ich mich: Warum zur Hölle tust dudir das eigentlich an?!

Am Anfang war die Vorfreude

Am ersten Tag war die Welt noch in Ordnung. Es war der 10. August 2022 undeine Million motivierte FestivalgängerInnen strömten in Budapest auf die Inselder Freiheit. Wir mittendrin. Die Vorfreude war grenzenlos. So wie die Leere inunseren Primatenbäuchen. Nach zwei Jahren Corona sass der Schock noch tief undwir seit langem auf dem Trockenen. An der Tankstelle um die Ecke stimmten sichdie wahren Stecher bereits auf das bevorstehende Spektakel ein. Billigbier vom Feinsten.Zapfsäulen inmitten der Bierbänke schufen das nötige Ambiente. Wir Füchsesteuerten jedoch zielstrebig in Richtung Eingangstor und schmuggelten wenigspäter unsere trojanischen Wasserflaschen an der Sicherheitskontrolle vorbei.Der Rausch war gesichert. Schon nach wenigen Minuten auf dem Festivalgelände dieEinsicht: Distanzen wurden unterschätzt. Die Sonne ballerte und der ersteMarsch über die Insel strapazierte Geist und Körper. Schneekanonen liefertendie dringend nötige Abkühlung #FridaysforFuture. Somit zog es uns zunächst inRichtung Strand, der sich als naturbelassene Oase der Ruhe entpuppte, wie mansie sonst nur vom Schlachtensee in Nord Berlin kennt. Im seichten Donauwasser sorgtenSonnencremelachen bereits für das erste bunte Farbspektakel und Absperrgittertrennten uns von der Aussenwelt. Endlich Urlaub! Einmal in der knöcheltiefenPfütze geräkelt und wir stürzten uns zurück ins Getümmel.

Die Kunst des Komasaufens

Als nächstes erkundeten wir das Kunstviertel, als hätten wir uns beweisenmüssen, nicht nur fürs Komasaufen gekommen zu sein. Auf Tafelwänden liess sichdas Datum unserer Anwesenheit verewigen und überdimensionale, korpulenteFrauenfiguren setzten ein Zeichen für Body Positivity. Doch die Farce hieltnicht lange an. Schon bald war es nicht mehr nur die abendliche Dämmerung dielangsam einschlug - Auch das trojanische Wasser knipste allmählich unsereLichter aus. Doch auch für diesen Fall waren wir gewappnet: Erleuchtet vonLichterketten und der geballten Kraft von 3 AA Batterien schwebten wir alsBoten des Lichts übers Gelände. Ein paar Weihnachtsfetischisten wurde einfrohes neues Jahr gewünscht. Im Delirium zwischen Alkohol- und Tanzrauschfesselten die Technobeats schon bald jede Zelle unseres Körpers an dieTanzfläche. Erst der nächste DJ-Wechsel katapultierte uns zurück in dieRealität. Wir befreiten uns aus einem Sumpf ausgelehrter Getränke, torkelten inSchräglage Richtung Toi Toi und machten uns auf, um irgendetwas Frittiertes zufinden. Nachdem Gyros und Döner verschlungen und Pfand für das Öko-Karmazurückgegeben wurde, endete der Tag so schnell wie er angefangen hatte: Mit 180km/h rasten wir im Taxi durch die Innenstadt in Richtung Schlafstätte. ImRückspiegel schrumpfe die Insel der Freiheit so schnell, wie der Tubi Sodaheute unser Denkzentrum attackierte. Für die einen eine Nahtoderfahrung, fürdie anderen ein Auslöser der Vorfreude, sich auch morgen wieder hemmungslos denSprit für die Seele in den Tank zu trichtern.

Ein Versuch der Kategorisierung

Bereits am dritten Tag wirkte die Fahrt in die Freiheit routiniert. Dieanfängliche Aufregung über den unfreiwilligen Schweissaustausch in derüberfüllten Bahn ist längst einer Akzeptanz für das notwendige Übel gewichen.Schliesslich wussten wir alle, welch holder Rausch uns bevorstehen würde.Selbst die Entlarvung unserer trojanischen Flasche bringt uns nicht aus demKonzept. Während all die Endorphine tagsüber einen Breakdancer in unsereneigenen Reihen enthüllten, liess uns JB abends unserer Pubertät gedenken. Plötzlichfeierte die Technokritikerin die Hiphop Beats im Drum’n’Bass und Seifenblasen liessenuns selbst den schlimmsten Kater vergessen. Im Tunnelblick durch schnelleBrillen ging es also weiter Richtung Mainstage. Unterwegs sichteten wir einen Gleichgesinnten,der sich in völliger Selbstüberschätzung in ein rollendes Fass verirrt hatte. EinEngländer - was sonst. Lauthals wurde er von Schaulustigen für seineHilflosigkeit abgefeiert. Als sich unser Held nach einer gefühlten Ewigkeit dieFreiheit erkämpft hatte, dankte er dem Publikum mit einem benommenen “the fockwas that lads?!”. An der nächsten Ecke stolperten wir über den nächstengefallenen Kameraden. Eingenickt am Baum mit entsperrtem Handy nutzen wir diegünstige Gelegenheit für ein paar Gruppenfotos. So schlängelten wir unszwischen kuriosen Gestalten durchs Festivalgelände nur um zu realisieren, dasses schlussendlich doch einfach nur vier Arten von uns gibt: Die Antis,bei denen sich bei dem Wort Festival bereits alles sträubt. Sie sehen es nichtein, tagelang im Dreck zu leben und sich für jede weitere Schweissschicht abzufeiern.Während ihnen das Wort 6-Tages-Pass die Sprache verschlägt, reisen sie nur fürein einziges Konzert an. Die Poser, denen Selbstinszenierung auf dieStirn geschrieben steht und die jeglichen Spass vor lauter Selfies verpassen.Sie haben jedes Outfit schon vor langer Zeit geplant, nur um heute zurealisieren, dass auch sie Opfer derselben Trendszene sind. Die Selbstzerstörer,die sich schon um 10 Uhr morgens den Kater wegtrichtern und wenig später miterhobener Faust übers Festivalgelände torkeln. Noch immer glitzerüberströmt vomVorabend scheinen sie jegliches Schamgefühl einst an der besagten Tankstelleverloren zu haben. Und schliesslich sind da die Ambivalenten. IhrPromillewert befindet sich abends irgendwo im zweistelligen Bereich, imGegensatz zu den Selbstzerstörern stellen sie jedoch jeden Morgen ihreBesinnung in Frage. Ganz nach dem Motto « My Body is my temple »schlürfen sie vormittags Smoothies und futtern Vitaminbärchen, um den masslosenAlkoholkonsum ab Nachmittag zu rechtfertigen. Zugegeben - zur letzteren Gruppegehörten wir.

Die Frage nach dem ‘Wieso’

Am letzten Tag liefen unsere noch verbliebenen Synapsen zu Höchstleistungauf, um das Wahrgenommene zu verarbeiten. Leider erfolglos. Wie Passagiere imeigenen Körper wurde das Gelände erlebt. Entscheidungen trafen wir nur nochpassiv. Getrunken wurde, was einem in die Hand fiel. Gehört, was dort spielte,wo man sich halt gerade befand. Und plötzlich begann das, wovor wir uns alle ammeisten gefürchtet hatten: Selbstreflexion. Das Eingeständnis, innerhalb von 6Tagen womöglich 6 kostbare Jahre seines Lebens versoffen zu haben. Vereint im Elend,versuchten man dann die grosse Frage zu ergründen, wozu man eigentlich gekommenist. Naheliegend wäre die Musik. Eine lang ersehnte KünstlerIn endlich liveerleben. Das Bühnenspektakel, gepaart mit Feuerwerk und Lichtermeer, das einengross träumen lässt. Eben das, was man im Nachhinein Arbeitskollegen undFamilie erzählt. Aber sind wir doch mal ehrlich: Festivals sind schlichtweg einwahnsinnig guter Grund, schon tagsüber über den Durst zu trinken. DieMoralapostel unter uns debattieren an dieser Stelle, sie wären auch ohne Rauschfür den Spass ihres Lebens bereit. Möglich. Aber die Welt kann unter lauterEndorphinen und Dopamin manchmal einfach herrlich bunt erscheinen. Oder wie dieletzten Menschen brüllen würden: Einfach mal so richtig die Sau rauszulassen! Für andere liegt die Magie vielleicht auch im Weihnachtsfetisch oder in derSehnsucht nach klebrigem Hautkontakt mit Gleichgesinnten. Denn auch wenn wiruns am nächsten Morgen lauthals über die Widerwertigkeit des abgestandenenBiergestanks auslassen, erinnert er gleichzeitig an die guten Zeiten vongestern, als wir uns tierisch übers Leben freuten. Gestern, als wir Unbekanntenwie Kindheitsfreunden um den Hals fielen, nur weil wir ihnen schon ein zweites Mal auf dem Gelände begegnet waren. Denn irgendwann nämlich kommt ein Moment,wenn das Gewicht der Alltagslasten abnimmt und das Wesentliche wichtig wird.Dann fallen die Hüllen und aus jemand wird jemensch. Dann spielt Rüfüs du Solim Sonnenuntergang und Herkunft keine Rolle. Dann findet das Fremde trotzdeutlicher Fahne seinen Weg in unsere Herzen und lässt uns selbst Wochen späternoch schmunzeln, wenn wir ganz nach Schweizer Gewohnheit wieder gesittet unseren Alltag leben.

Anica & Tino

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